Theoretische Grundlagen der Psychoanalyse

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Wozu Psychoanalyse?

 

Im Fall einer mentalen Überlastung oder psychischen Erkrankung erfährt das Leben eine grundsätzliche und bedeutende Akzentverschiebung. Das positive Gefühl einer Offenheit und inneren Freiheit-zu (Glück, Beziehungen, sinnvollen Aufgaben) weicht dem Streben nach einer Freiheit-von. Vorherrschend wird das Bedürfnis, frei zu werden von etwas, das einen tendenziell überwältigt – von sich aufdrängenden Gedanken, negativen Emotionen oder schädlichen Impulsen. Ein solcher Kampf erschöpft das Selbst. Im Zuge dessen können Symptome wie Ängste, Depressionen, Zwänge oder psychosomatische Beschwerden entstehen. Vielfältige Möglichkeiten geraten aus dem Blickfeld.

 

Die tiefenpsychologisch fundierte und die analytische Psychotherapie ist darauf ausgerichtet, derartige Leidenszustände überwinden zu helfen. Die anerkannten Richtlinienverfahren basieren auf der Psychoanalyse. Die Psychoanalyse ist eine intensiv erforschte Behandlungswissenschaft und verfolgt das Ziel, psychische Symptome zu heilen bzw. wesentlich zu lindern.

 

Die Psychoanalyse wurde vor 123 Jahren von Freud ins Leben gerufen und ist seither beständig weiterentwickelt worden (Veröffentlichung der „Traumdeutung“, 1900). Einzelne Konzepte, wie beispielsweise Freuds frühes Phasenmodell der Psychosexualität, gelten heute als überholt. Seine wesentlichen Grundannahmen erfuhren jedoch unter anderem durch die Hirnforschung der letzten 20 Jahre eine weitreichende Bestätigung.

 

Freud konzipierte vier theoretische Grundannahmen („metapsychologische Gesichtspunkte der Psychoanalyse“), später auf sechs erweitert, die miteinander zusammenhängen und die im folgenden vorgestellt werden.

 

 

Die sechs psychoanalytischen Grundannahmen

 

1. Das mentale Leben verläuft weitgehend unbewusst (der topographische Gesichtspunkt)

 

Freud erkannte früh, dass das Bewusstsein lediglich die buchstäbliche Spitze des Eisbergs bildet. Die sichtbare Spitze ruht auf einem unendlich großen Fundament unsichtbarer, das heißt unbewusster Erfahrungen.

Im Falle mentaler Gesundheit besteht eine flexible Verbindung zwischen bewussten und unbewussten Bereichen, zwischen bewusstem, vorbewusstem und unbewusstem Fühlen, Träumen, Denken und Tun. Diese Verbindung gewährleistet eine mühelose und kreative Selbstregulation und sorgt für ein positives Gefühlsspektrum.

Wenn bewusste und unbewusste Anteile des Selbst auseinanderstreben, erscheint die nicht bewusste Terra incognita als fremd. Die Verbindung zum Kern des Selbst ist störbar. Es entsteht das quälende Gefühl, dass man nicht weiß, was man will und wer man ist.

Innerhalb einer Psychoanalyse geht es darum, das verloren gegangene Vertrauen in das eigene Unbewusste – und in andere Menschen – wiederzugewinnen.

 

Je mehr wir in unser eigenes Unbewußtes eindringen, desto mehr entdecken wir, ... daß wir hinsichtlich der Qualität unserer Strebungen gleich sind. Die gründliche Erforschung des Unbewußten stellt einen Weg dar, die Menschheit in sich selbst und in jedem anderen menschlichen Wesen zu entdecken“ (Erich Fromm).

 

 

2. Das individuelle Gewordensein (der genetische Gesichtspunkt)

 

Alle Gefühle, Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen lassen sich auf bestimmte Ursprünge zurückführen (Genese). Im psychoanalytischen Gespräch wird immer wieder – ausgehend von der gegenwärtigen Interaktion – auf das individuelle Gewordensein Bezug genommen, um die Selbsterkenntnis zu fördern. In der Kindheit erfolgen grundlegende Weichenstellungen, wie man sich in der Welt fühlt und wie man andere erlebt („being with one another“). Doch die frühen Erfahrungen und die jeweils individuellen Reaktionen darauf sind nicht allein ausschlaggebend. Vielmehr erfolgt in jedem Lebensabschnitt eine Veränderung (z.B. Pubertät als „zweite Chance“) und dies geschieht bis ins hohe Alter.

Veränderungen vollziehen sich nicht mühelos, sondern rufen stets Verunsicherung hervor. Wenn eine psychische Vulnerabilität vorliegt, werden Umbrüche als sehr schmerzhaft empfunden, weil sie das ohnehin angreifbare Selbst destabilisieren.

Dies ist jedoch vorübergehend. Sie sollten Schwellensituationen annehmen und als Entwicklungschance begreifen. Krisen sind Wendepunkte und bieten Ihnen die Möglichkeit, gefestigt aus der Situation hervorzugehen. Die psychoanalytische Herangehensweise vermag Sie darin zu unterstützen.

 

„Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, lässt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr lässt uns dagegen stagnieren.
Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues ... Entwicklung, Erwachsen-Werden und Reifen haben also offenbar viel zu tun mit Angstüberwindung”
(Fritz Riemann).

 

 

3. „Die Stimme der Vernunft ist leise und sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat“ (der strukturelle Gesichtspunkt)

 

Ziel einer Psychoanalyse ist – in klassischer Begrifflichkeit – die Stärkung des Ichs, man spricht heute von der gut integrierten Persönlichkeitsstruktur. Im Ich soll ein innerer Freiraum entstehen, die weitgehend unbewusst konzipierte Innenwelt (Freud), die „Weite der subjektiven Welt“ (Heinz Hartmann), ein Möglichkeitsraum, der vor äußeren Belastungen schützt und Kreativität befördert.

Freud hat sich im Rahmen seiner späten Ich-Psychologie mit höheren kognitiven Funktionen beschäftigt, dem bewussten und unbewussten Denken, Einschätzen und Schlussfolgern. Das reife Überich – das weitgehend unbewusste Gewissen – bezeichnete er als das „Höchste im Ich“, weil es ein unabhängiges Urteilsvermögen gewährleistet.

Dies geht mit einem Ringen um einen Standpunkt und einen Ausgleich einher. Freud schrieb:

 

 „Viele Menschen können die Angst vor dem Liebesverlust nicht überwinden, sie werden nie unabhängig genug von der Liebe anderer und setzen in diesem Punkt ihr infantiles Verhalten fort.“

 

Erst innere und äußere Auseinandersetzungen sowie Trennungen ermöglichen gelingende Konfliktlösungen und ein erneutes Sich-Einlassen-Können auf Menschen und Aufgaben. Trauerprozesse befördern laut Freud die Verinnerlichung des Guten und Wertvollen, das man erfahren hat. So entsteht eine eigenständige Persönlichkeit.

 

 

4. Der unbewusste Konflikt (der dynamische Gesichtspunkt)

 

Wenn Menschen im Einklang mit ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten und im Einklang mit wichtigen Anderen leben können, fühlen sie sich gut und ausgeglichen. Doch das Gleichgewicht geht immer wieder verloren. Es gibt vielfältige äußere, aber auch innere Konflikte: zwischen gleich starken Wünschen, zwischen Bedürfnis und Notwendigkeit oder zwischen eigenen Anliegen und den Erwartungen anderer. Unter günstigen Umständen wachsen Menschen in dem Maße, in dem es ihnen gelingt, schwierige Situationen und Probleme zu überwinden.

Wenn die Bemühungen immer wieder scheitern, liegt ein Hinweis auf einen unbewussten Konflikt vor. Das Konzept des unbewussten Konflikts ist ein Eckpfeiler der psychoanalytischen Theorie. Unbewusste Konflikte äußern sich als grundlegende Ambivalenz, als einseitige Rigidität oder als körperlich empfundenes Unwohlsein. Dem liegt ein unbewusster Widerstreit zwischen einem elementaren Wunsch und der Angst vor der damit subjektiv assoziierten Gefahr zugrunde. Die beiden hochaffektiven Alternativen (unbewusster Wunsch vs. unbewusste Furcht) können weder erkannt, noch in ihrer Entstehungsgeschichte erinnert oder bewältigt werden.

Das unbewusste Auseinanderstreben schlägt sich stattdessen im Verhalten nieder. Deshalb kommen Menschen immer wieder in ähnliche Situationen und erleben ähnliche Entscheidungskonflikte. Ziel einer Psychoanalyse ist die Auflösung der quälenden Spannung sowie eine flexible und dauerhafte Lösung des lebensgeschichtlich bedeutsamen Konflikts.

 

 

5. Der Gesichtspunkt der Anderen (adaptiver oder interpersoneller Gesichtspunkt)

 

Menschen möchten selbstbestimmt leben, wünschen sich aber gleichermaßen Austausch und Zugehörigkeit. Das unbewusste Bedürfnis nach Gemeinsamkeit ist so stark, dass wir Ansichten übernehmen und uns anstecken lassen von Gefühlen, Bestrebungen und Erwartungen – blitzschnell, automatisch und völlig außerhalb des Gewahrseins. Selbst die (unbewussten) Einstellungen früherer Bezugspersonen bleiben wirksam. Die individuelle Psyche ist auf diese Weise vielfach mit der Psyche anderer verwoben.

 

„Es ist sehr bemerkenswert, daß das Ubw [das Unbewusste] eines Menschen mit Umgehung des Bw [des Bewusstseins] auf das Ubw eines anderen reagieren kann“ (Freud).

 

Man spricht vom Zwei-Personen-Unbewussten, das gleichzeitig das zentrale Wirkprinzip der Psychoanalyse bildet. Denn wenn Menschen negative Erfahrungen in Bindungsbeziehungen gemacht haben, entsteht das unbewusste Motiv, das Erlittene wiedergutmachen. Dies ist ein Ausdruck von Hoffnung. Dem steht allerdings der sogenannte Wiederholungszwang entgegen – ein nicht förderliches inneres Bestreben, das den flexiblen Prozess, Neues aufzunehmen, auf das man wiederum auf neue Weise reagieren kann, verhindert.

Es ist die vorrangige Aufgabe des Psychoanalytikers, der Psychoanalytikerin, den unbewussten Wiederholungszwang immer wieder zu erkennen und der Bearbeitung zugänglich zu machen („Arbeit mit Übertragung und Widerstand“). Wenn dies gelingt, entsteht Vertrauen und eine wichtige neue Beziehungserfahrung.

 

„Jede Forschungsrichtung, welche diese beiden Tatsachen [Übertragung und Widerstand] anerkennt und sie zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit nimmt, darf sich Psychoanalyse heißen” (Freud).

 

 

6. Der Gesichtspunkt der mentalen Energie (der ökonomische Gesichtspunkt)

 

Jeder Mensch verfügt über ein bestimmtes Reservoir an mentaler Energie. Diese ist beispielsweise wirksam, wenn Gefühle das abwägende Denken beiläufig aktivieren. Oder wenn wir eine anstrengende Arbeit mit Elan in Angriff nehmen. Oder wenn das innere Gleichgewicht trotz einer schlechten Nachricht erhalten bleibt.

Anders verhält es sich bei einem unbewussten Konflikt, der zu einem enormen Verlust an Ich-Energie führt. Es herrscht ein unterschwelliger innerer Kampf, der eine permanente Anstrengung erfordert. Dies führt zur mentalen Erschöpfung und Regression, die sich in Form von  Schwarz-Weiß-Denken, der Verstärkung insbesondere negativer Gefühle sowie Antriebslosigkeit bzw. Impulsivität äußert.

 

„Das Ich fühlt sich unbehaglich, es stößt auf Grenzen seiner Macht in seinem eigenen Haus, der Seele. Es tauchen plötzlich Gedanken auf, von denen man nicht weiß, woher sie kommen; man kann auch nichts dazu tun, sie zu vertreiben. Diese fremden Gäste scheinen selbst mächtiger zu sein als die dem Ich unterworfenen. Das Ich ... verschärft seine Wachsamkeit, aber es kann nicht verstehen, warum es sich in so seltsamer Weise gelähmt fühlt” (Freud).

 

Wenn unbewusste Konflikte gelöst werden, kann aus dem starren Entweder-Oder ein flexibles Sowohl-als-auch werden. Dadurch erfolgt eine Energetisierung des Selbst („ruhende Besetzung“), die Besonnenheit gewährleistet und es Menschen ermöglicht, das umzusetzen, was ihnen wichtig ist und ihnen Freude bereitet.

 

 

 

Zusammenfassung

 

Ziel einer Psychoanalyse ist es, Leidenszustände und Symptome überwinden zu helfen.

Das behandlungspraktische Vorgehen ergibt sich aus folgenden theoretischen Grundannahmen, die eng miteinander verknüpft sind:

 

1. Alle psychischen Vorgänge wurzeln im Unbewussten. Für ein glückliches Leben ist es notwendig, dem eigenen Unbewussten angstfrei begegnen zu können. Dann steht Ihnen Energie zur Verfügung, selbst gewählte Ziele zu verfolgen.

 

2. Gefühle, Überzeugungen und Verhaltensweisen lassen sich auf bestimmte Ursprünge zurückführen. Mit der Selbsterkenntnis ergibt sich eine Erkenntnis der umgebenden Welt. Es entsteht ein Moment der Freiheit, sich neu auszurichten.

 

3. Psychische Symptome basieren auf einem oder mehreren unbewussten Konflikten. Diese sind dem Gewahrsein entzogen, gelangen allerdings im psychoanalytischen Gespräch in Form von logischen Brüchen, Auslassungen und Abschweifungen an die Bewusstseinsoberfläche. Unbewusste Konflikte müssen gelöst werden, sodass lebensgeschichtlich bedeutsame Wünsche flexibel erfüllt bzw. modifiziert und reguliert werden können.

 

4. Die Ausweitung des reflexiven Bewusstseins, die Strukturierung des eigenen Unbewussten und die zunehmende Lösung zunächst unvereinbar erscheinender innerer Gegensätzlichkeiten führen zu einer Stärkung des Ichs. Es entsteht ein mentaler Möglichkeitsraum, der vor äußeren Belastungen schützt und ein wirklichkeitsgetreues Denken und Urteilen erlaubt. Das Überich repräsentiert die reife Persönlichkeit, die sich aus gelungenen Konfliktlösungen konstituiert. Dies setzt ein inneres Abschiednehmen von kindlichen Bedürfnissen voraus – etwa dem Wunsch, stets anerkannt und geliebt zu werden – was im Erwachsenenleben scheitern muss.

 

5. Durch Unterstützung und Resonanz ermöglicht eine Psychoanalyse eine bedeutsame neue interpersonelle Erfahrung und schafft eine Basis für neue positive Beziehungsmuster.

 

6. Dadurch erhöht sie den Energiestatus des Selbst. Sie werden wieder in die Lage versetzt, die Initiative zu ergreifen und Ihr Leben gemäß Ihren Vorstellungen zu führen.

 

 

© 2023 Dr. Sabine Anna Saalfeld